Professionelles Prokrastinieren: Warum Aufschieben (auch) Arbeit ist

 

Eigentlich wollte ich diesen Text gestern veröffentlichen, zum Tag des Kampfes gegen die Prokrastination am 6. September. Er erscheint mit einem Tag Verspätung. Für mich ist das kein Zufall, sondern fast schon Programm: Aufschieben gehört zum kreativen Arbeiten dazu. Selbst, wenn KI bei der Arbeit unterstützt.

Es hat also noch ein wenig gedauert, bis der Beitrag fertig war. „Gut Ding will Weile haben“, sagt der Volksmund. Das ist nicht nur so daher gesagt. Qualität kommt bekanntlich von Qual, und Kreativität braucht ihre Zeit. Selbst, wenn KI ihr auf die Sprünge hilft.

Vier Phasen des kreativen Prozesses

Der britische Sozialpsychologe Graham Wallas hat schon 1926 beschrieben, wie kreatives Denken verläuft. Sein Modell ist bis heute aktuell. Demzufolge verläuft kreatives Denken in vier Phasen.

1. Vorbereitung

Am Anfang steht immer das Sammeln: Einlesen, Recherche, Brainstorming. Notizen finden sich überall im analogen oder digitalen Raum verteilt. In dieser Phase geht es darum, möglichst viel Material zusammenzutragen, Fakten zu verstehen und die eigene Perspektive zu schärfen. Ich spreche bei dieser Phase auch gerne von der Expedition, im Sinne von Aufbruch ins Unbekannte. 

Je gründlicher diese Vorbereitung, desto mehr Futter hat das Unterbewusstsein später. Denn das übernimmt im nächsten Schritt die Arbeit.

2. Inkubation

Die meisten kennen das aus der Studienzeit: Spätestens, wenn die Abschlussarbeit ansteht, beschäftigen sich viele mit allem Möglichen anderem, manchmal oft sehr Alltäglichem: Geschirr spülen, Schubladen aufräumen, Wäsche zusammenlegen. Von außen betrachtet wirkt das wie Prokrastination – und genau das ist es auch. Aber in dieser Phase arbeitet das Unterbewusstsein mit aller seiner Macht an der großen Aufgabe. Entscheidend ist, keine überzogenen Erwartungen an sich selbst zu haben. Die Inkubation lebt vom Vertrauen, dass etwas reift, ohne es direkt kontrollieren zu können.

3. Illumination

Dann passiert es: der Geistesblitz. Er kommt selten beim Brüten am Schreibtisch. Viel öfter geschieht es unterwegs, im Halbschlaf oder eben kurz vor der Deadline. Diese Verzögerung ist typisch für kreative Prozesse – und sie lässt sich einplanen.

Wer weiß, dass die Erleuchtung spät kommen kann, ist vorbereitet. Ich halte immer etwas bereit, um spontane Einfälle festzuhalten: Notizbuch, App oder einfach eine schnelle Sprachnotiz. So wird aus der plötzlichen Idee ein konkreter Baustein für die Arbeit.

Von jetzt an muss alles meist sehr schnell gehen. Es bleibt oft wenig Zeit. Diese Phase zeichnet sich durch hohe Produktivität aus. Verbunden mit der Frage: Warum war ich denn nicht die ganze Zeit schon so bei der Sache? 

4. Verifikation

Phase vier ist die Verifikation. Ich spreche auch von Evaluation. Jetzt wird noch einmal strukturiert, geordnet, verworfen und verbessert.

Wer den kreativen Prozess kennt, plant bewusst genug Zeit dafür ein, damit aus einer rohen Eingebung ein tragfähiger Text oder ein fertiges Projekt wird.

Prokrastination ist Arbeit: Ein junger Mann sitzt vor seinem Monitor und kaut am Bleistift.

Prokrastination und KI

Beim Schreiben dieses Beitrags hatte ich Unterstützung durch eine Künstliche Intelligenz. KI liefert sofort, ohne Pausen, immer im Takt. Menschen dagegen brauchen Umwege, Pausen und manchmal sogar den Druck einer nahenden Deadline. Natürlich hätte die KI den Text schon gestern fertiggestellt – aber er musste erst noch reifen. Und auch KI-Texte benötigen bei aller Kunst des Promptens eine sorgfältige, menschliche Evaluation.

Es braucht eben immer ein paar zusätzliche Prompts, Zeit zum Nachdenken und am Ende die menschliche Überarbeitung. Genau darin zeigt sich, warum Prokrastination Arbeit ist: Sie schenkt der Idee den Raum, den keine Maschine ersetzen kann.

Ein gut gereifter Text…

Dass dieser Text nicht am 6., sondern am 7. September erscheint, ist kein Zufall, sondern symptomatisch. Prokrastination ist eben Arbeit – ein fester Bestandteil des kreativen Prozesses. Wer ihn versteht, sieht im Aufschieben eine Phase mit eigener Logik und eigenem Wert. Professionelles Prokrastinieren heißt, diese Phase bewusst zu gestalten und ihr den Raum zu geben, den gute Ideen brauchen.

Gestern wäre der Text geschrieben gewesen, heute ist er gut gereift.

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